Schattentheater in Deutschland

Während das Schattenspiel in Asien eine über zweitausendjährige Tradition hat, wurde diese theatrale Form in Europa erst Ende des 17. Jahrhunderts bekannt. Aus Asien kam das Schattenspiel über die Türkei und Italien nach Deutschland. Das älteste Zeugnis westeuropäischen Schattenspiels ist in einem Reisebericht Pietro della Valles 1674 in Unteritalien enthalten. Wirkliche Bedeutung hatte es zunächst nur in Frankreich, wo mit der Bühne von Francois Dominique Seraphin im Lannion Garten in Versailles und später dann in Paris mit Rudolphe de Salis "Chat Noir" eine eigenständige Form des Schattentheaters entstand. Während die Asiaten bei ihren Figuren den Schwerpunkt auf die filigrane Binnenstruktur legten und ihnen die Animationsvielfalt sowie die Sichtbarkeit der Bewegungsquelle weniger wichtig waren, erfanden die Europäer für die Animation ausgetüftelte Systeme von Stäben, Drähten, Fäden und Koppelungen und achteten darauf, dass die Bewegungsquellen verborgen blieben. Die mechanische Belastung der Figuren wurde höher und so war es notwendig, von der Pappe, die anfänglich allein verwendet wurde (Pergamentfiguren kannte man in Europa trotz der Herkunft des Schattenspiels aus Asien erst viel später), zu stabileren Materialien wie Holz und Metall zu greifen. Diese Schattenfiguren wiesen im Gegensatz zu den Scherenschnitten keinerlei Binnenstruktur auf.

Zunächst gastierten in Deutschland nur ausländische Ensembles, die entweder an die italienische Herkunft ("Italienische Schatten") anknüpften oder später die Mode der "Chinoiserie" nutzten ("Ombres Chinoises"). Auch der deutsche "Mechanikus Geisselbrecht" beantragte 1796 beim Rat der Stadt Nürnberg eine Genehmigung für "Chinesische Schattenspiele".

Engert Ernst M. Engert

Schwabinger Tod Kerner/Polster
"Der Totengräber vom Feldberg"

Heinz Ohlendorf Heinz Ohlendorf "Urfaust"

Lotte Reiniger Lotte Reiniger "Carmen"

Leo Weismantel "Leo Weismantel"

Otto Krämer, Otto Krämer,"Rumpelstilzchen"

Zahlreiche Autoren des 19. Jahrhunderts schrieben Stücke für das Schattenspiel, so z.B. Goethe, beide Brentanos, Arnim, Tieck, Kerner, Grillparzer, Mörike und Pocci. Neben den vielen kleinen Schattenfigurenbühnen, dem Papiertheater ähnlich, bildete sich eine Schattentheaterbewegung, deren Mitglieder mit großen Laken in die Natur zogen und im morgendlichen Sonnenlicht Menschenschattentheater spielten.

1901 gründete Ernst von Wolzogen, von dem Erfolg der "Chat Noir" beflügelt, in Berlin die Kleinkunstbühne "Überbrettl". In München entstanden die "Elf Scharfrichter". In beiden Bühnen wirkte die Pariser Tradition des Kabaretts mit antibürgerlicher, moralkritischer Tendenz fort. In Paris war die "Chat Noir" inzwischen geschlossen.

Der Theosoph Justinus Kerner verfolgte zur gleichen Zeit eine ganz andere Richtung, die Ludwig Uhland in einem Brief beschreibt: "Es hat bis jetzt noch kein ständiges (Schattentheater) gegeben. Das ist umso merkwürdiger, als das traumhafte Wesen des Schattenspiels uns ungleich mehr entspricht als dem Franzosen ... Allerdings hat er darin neben dem rein Bildhaften fast nur die komischen Wirkungen herausgearbeitet ... Allein das Eigentümliche und tief Ergreifende des Schattenspiels liegt ganz wo anders, ganz im Seelischen." (Die neue Rundschau 1907)

Mit dem Zusammenschluss einer Künstlergruppe unter Alexander von Bernus begannen am 1. November 1907 die "Schwabinger Schattenspiele" mit Goethes "Pater Brey", A. v. Bernus "Don Juan" und K. Wolfskehls "Wolfdietrich und die raue Els". Der Erfolg war außerordentlich groß und erreichte mit der Teilnahme an der Ausstellung "München 1908" mit einem eigenen Gebäude ihren Höhepunkt. Die Figuren hierzu schnitten Dora Polster-Brandenburg, Rolf von Hoerschelmann, Emil Praetorius und Karl Thylmann. Aber schon 1912 fand zum letzten Mal ein Spiel der Schwabinger Gruppe statt. Die Erfindung des Stumm-Films durch die Brüder Lumière übernahm die Form der Schattendarbietungen wie z.B. die Musikbegleitung und Kommentierung vor der Leinwand und drängte das Schattentheater zurück.

Der junge Ernst Moritz Engert besuchte die Schwabinger Gruppe, ließ sich von Alexander von Bernus anregen und fertigte auch Silhouetten von Hoerschelmann und Wolfskehl. In Yokohama geboren und aufgewachsen bis zu seinem zwölften Lebensjahr, war er durch die japanische Psaligrafie geprägt. "Der neue Club", in dem sich in Berlin eine junge expressionistische Künstlergruppe zusammenfand, beeinflusste Engerts künstlerische Entwicklung in Richtung einer expressionistischen Formensprache. Schon 1911 schuf er Figuren für das Schattendrama "Sansara" von Golo Gaugi und weiterhin für "Das Loch" von A. von Arnim. Der zweite Weltkrieg unterbrach sein Schattentheaterwirken, er schrieb und zeichnete jedoch weiterhin aus dem Feld für seine Tochter. (Später als "Briefe aus dem Tiech an Uti" veröffentlicht, z.Zt. Ausstellung im August Macke Haus in Bonn.) Verletzt kehrte er von der Front zurück, konnte sich jedoch 1917 mit der "Künstlerischen Figurenbühne München", einer von Soldaten eingerichteten Bühne, wieder dem Schattenspiel widmen und Figuren zu Klabunds "Der Wüstling" und C. M. von Webers "Abu Hassan" und H. Sachs Lustspiel "Der Mann mit den Teufeln im Leib" schaffen.

Ernst M. Engert veränderte nicht nur die Formensprache der Schattenfiguren, er begründete auch ihre Binnenstruktur ähnlich der der Scherenschnitte, jedoch reduziert und formal stilisiert. Mit fast geometrischer Exaktheit und oft karikierender Übertreibung der Physiognomie machte er den Charakter der Figur deutlich. Seine Sperrholzfiguren zeichneten sich durch eine hohe Beweglichkeit aus, die durch Laufschienen und Fadenzüge erreicht wurde. Die Animation erfolgte meist von der Seite aus. Ernst Moritz Engert, der inzwischen Kunstprofessor geworden war, blieb dem Schattentheater zeitlebens verbunden und wirkte bei dem Stummfilm "Der Schatten", eine nächtliche Halluzination, entscheidend mit. Leider scheiterte 1952 der Plan eines Schattenspiels im Fernsehen an der vergeblichen Suche nach einem Mitspieler. Ernst Moritz Engert gilt wegen seiner formvollendeten Ornamentik, des treffsicher pointierten Ausdrucks und des Bewegungsreichtums seiner Schattenfiguren als der bedeutendste Schattenfigurenkünstler des zwanzigsten Jahrhunderts.

Nach dem 1. Weltkrieg wuchs aus der Jugendbewegung eine neue Form des Schattentheaters als Protest gegen den abgehobenen Kunstbetrieb heraus. Propagiert wurde vom Bühnenvolksbund eine neue Kulturbühne, die das "alte bürgerliche Theater" ablösen sollte. Schattenspiel wurde vor allem von Leo Weismantel als pädagogische Möglichkeit verstanden. So schrieb er 1930 ein "Schattenspielbuch" mit Anleitungen zum Bau einer Bühne, zur Herstellung von Figuren mit Schnittvorlagen und Texten von "Schattenspielen des weltlichen und geistlichen Jahres". Die Figuren seiner Stücke stammten von ihm selbst und von Fritz Giebel. Heinz Ohlendorf, der auch aus dem Bühnenvolksbund hervorging, publizierte in der Reihe "Werkbücher für deutsche Geselligkeit" und wurde durch einen Auftrag der Goethe-Gesellschaft Hannover, den Ur-Faust als Schattenspiel zu gestalten, bekannt.

In diese Zeit fällt auch das Wirken von Margarethe Cordes, die die "Schattenbriefe" publizierte und in vielen Kursen an Volkhochschulen die "Technik des Schattenspiels mit beweglichen Figuren" lehrte. Viele der von M. Cordes eingesetzten Figuren stammten von Hede Reidelbach, die Figuren nicht nur entwarf, sondern im Bereich "Koppelbewegungen" zu höchster Perfektion gelangte.

Der Name Lotte Reiniger ist wohl der erste, der uns einfällt, wenn wir nach berühmten Schattenspielern fragen, obwohl sie ihre Berühmtheit dem Silhouettenfilm und weniger dem Schattentheater verdankt. Mehr als 80 Filme - damals noch in Pionierarbeit als Einzelbild-Legetrick - sind ihr zu verdanken. Dabei wurde sie zum großen Teil von ihrem Mann Carl Koch unterstützt.

Ihr berühmtester Film war - und ist - "Prinz Achmed", der erste abendfüllende Trickfilm. Lotte Reinigers erste Arbeiten standen noch ganz unter dem Einfluss des Jugendstils, spätere unter dem der expressionistischen Bewegung. Hier gab es Gemeinsamkeiten mit E. M. Engert. Beide kannten und schätzten sich.

Ein anderer Deutscher, Max Bührmann, wurde mit seiner "Pflaumenblüte-Gesellschaft" ob seiner chinesischen Spielweise berühmt, da selbst die Chinesen sagten, er spiele chinesischer als sie selbst (siehe den separaten Beitrag). Das Ensemblemitglied Ulli Schnorr fertigte später zunächst Duplikate von chinesischen, später eigene Figuren wie die für das Schattenspiel "James Tierleben" nach James Krüss.

Die Linie von der "Chat Noir" über E. M. Engert setzte der Karlsruher Professor für Maschinenbau, Otto Kraemer, fort. Als Schlosserlehrling hatte er direkt nach dem ersten Weltkrieg für die Kinder der Familie, die ihn aufgenommen hatten, Pappfiguren mit Blumendrahtgelenken gebaut und im Lichte einer Kerze Schattentheater gespielt. Später als Ingenieur bei einer Werft fand er eine kreative Verwendung für Sperrholzabfälle, indem er Schattenfiguren daraus baute. Im Lauf seines Lebens wurden es 700 oder 800 - er sagte, er habe sie nie gezählt. In vielen Publikationen wie "Meister des Puppenspiels" und "Technik des Figurentheaters" sowie in vielen Kursen gab er sein Wissen über die Mechanik der Bewegungsmöglichkeiten weiter. So gibt es Artikel über "Gelenkvierecke", "Schmetterlingstechnik", Parallelogramme", "Der 90-Grad Trick" oder "Kurbeltechnik". Sein großes Ziel, ein Standardwerk für Schattentheater herauszugeben, konnte er leider nicht mehr verwirklichen. Kraemers Fähigkeiten lagen aber nicht allein in der technischen Bewältigung verschiedener und oft überraschender Bewegungen, auch die Ausdrucksstärke seiner Figuren überzeugt. Durch Manierierung und Karikierung von Gliedmaßen und Körperformen sowie einer opulenten Ausgestaltung von Kostümen und Kulissen prägte er einen eigenen Stil. Dieser Stil drückte sich auch in der Spielfläche, einem Halbkreis, aus, womit die Assoziation einer abgeschlossenen Welt vermittelt wird. Gleichzeitig wurden die bei rechteckigen Schirmen oft ungenützten oberen Ecken vermieden. Obwohl Kraemer sich gerne als "Dilettanten" bezeichnete, kokettierte er damit, denn auch die selbstgeschriebenen Texte und seine souveräne Spielweise waren alles andere als dilettantisch. Als Spieler agierte er gemeinsam mit seiner Frau. (Als Schüler habe ich mehrere Aufführungen von O. Kraemer erlebt und wurde von dem "Virus" erfasst, so dass ich selbst Schattenspieler wurde.)

Leider lehnte O. Kraemer es ab, Farben in seinen Aufführungen zu verwenden, vielleicht hätte er die Licht-Wirkungen des Schweizers Rudolf Stoessel oder die Ergebnisse der "Kristalloptik" der Bühne Boelger-Kling sehen müssen, um diese Meinung zu ändern.

Die Neuerungen der Lichttechnik haben dem Schattentheater in den letzten zwanzig Jahren neue Entwicklungsmöglichkeiten gegeben. Diese neuen Möglichkeiten einzusetzen, ohne alte Qualitäten aufzugeben, stellt sich heute als reizvolle Aufgabe einer jeden Inszenierung. Erfreulicherweise beschäftigen sich zur Zeit eine ganze Reihe von Bühnen in unterschiedlichster Weise mit dem Schattentheater. Einige von ihnen haben die Möglichkeit genutzt, sich durch eigene Beiträge in diesem Heft darzustellen.

Es wäre zu wünschen, dass das Schattentheater auch in Zukunft nichts an seiner eigenständigenForm verliert.

"Das in seinen Ursprüngen verwurzelte Wesen des Schattentheaters stellt eine geradezu ideologische Alternative zu den aktuell "angesagten" audiovisuellen Medien dar." (Zitat von Chris Wahl in "Licht Gestalten",Schnitt 34)

Frieder Paasche

Literatur:
Dunkel, Peter F., "Schattenfiguren Schattenspiel", Köln 1984
Fröhlich/Trüb Hrsg., Rudolf Stössel "Einblicke, Rückblicke, Lichtblicke",St. Gallen 1989
Happ, Alfred, "Scherenschnitt und Schattentheater im 20. Jahrhd." in: "Licht u. Schatten", München 1983
Jacob, Georg, "Geschichte des Schattentheaters", Hannover 1925
Ohlendorf,Heinz, "Das Schattenspiel", Potsdam 1935
Purschke, Hans R., "Die Entwicklung des Puppenspiels", Frankfurt 1984
Reiniger, Lotte, "Schattentheater Schattenpuppen Schattenspiel", Tübingen 1981
Schnitt, Heft 34, 2004
Strasser, René, "Das literarische Schattenspiel", Rorschach 1983
Wallner, Edmund, "Schattentheater Silhouetten und Handschatten",Erfurt 1895
Weismantel, Leo, "Schattenspielbuch" Augsburg 1930
Archiv von Marc Jean Bensemann über E.M. Engert, Hadamar
"Meister des Puppenspiels", Heft 22 (Kraemer) und 34 (Reiniger)
"Technik des Figurentheaters", Hefte 3/76, 4/79, 6/81 (Kraemer)

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