Spiel der Schatten – Reflexionen

Der Schatten ist unser "alter ego", er begleitet uns immer. Aber in gewisser Weise sind wir ihm gegenüber blind, das heißt, wir nehmen nur einen Teil bewußt wahr. Von klein auf sind wir so an ihn gewöhnt, daß wir ihn vor allem dann bemerken, wenn wir ihn nicht mehr wahrnehmen können, weil er fehlt.
   Ohne Schatten schweben Gegenstände. Erst der Schatten ermöglicht die Dreidimensionalität. Dies weist uns auf Besonderheiten des Schattens hin, denn er kann Dinge, die wir nicht können: Er kann sich in die Länge ziehen oder verkürzen, Wände hochsteigen, durch Feuer oder Wasser gehen, ohne daß ihm das etwas anhaben kann. Schatten von Gegenständen und Menschen können ineinander übergehen, wessen Schatten sehen wir, welcher Schatten durchdringt? Er verschmilzt mit anderen und löst sich im nächsten Moment wieder.

Welche Bedeutung hat der Schatten ?

In Mythologie und Religion ist die Bedeutung des Schattens Jahrtausende alt. Der schwarze Schatten des Lebenden ist schon im Altägyptischen zum Träger psychischer Funktion geworden und deshalb im Schlaf und auch im Tod vom Menschen getrennt. Dies kennzeichnet die Entwicklung vom physischen zum psychischen Schatten, zur Schattenseele. In vielen Kulturen stimmen die Traum– und Todvorstellungen, dargestellt als Seele (bildhaft oft als Taube), die aus der Körperhülle hervortritt, überein. Schatten und Seele sind in vielen Kulturen identisch. Das natürliche Band, das Menschen und Schatten verbindet, wurde magisch. Götter, Dämonen, Gespenster und Teufel werfen keine Schatten, sie existieren nur ideell in der Spekulation, die ihnen Körper verleiht. Die Bedeutung des Schattens im germanischen Volksglauben war Ahngeist und persönliche Seele. Die negative Bedeutung – als verdrängte Anteile oder als Teufel – entstand erst später im Laufe der Christianisierung.
   Neben dem Begriff "Seele" hat der Schatten eine dunkle, destruktive Seite. Viele Redewendungen beschäftigen sich mit ihm und so können wir uns seinem Gehalt nähern: "Schattenseiten", "nur noch ein Schatten seiner selbst sein", "Schattenkabinett", jemanden "beschatten", "über den eigenen Schatten springen", "Schattenwirtschaft", "jemanden in den Schatten stellen", "Verdacht, der sich wie ein Schatten auf einen legt", "vor dem eigenen Schatten fliehen", "jemanden wie ein Schatten folgen", "Schattenboxen", "dem eigenen Schatten nachjagen", "ein Schattendasein führen", "etwas wirft seinen Schatten voraus".
   Die Bedeutung der meisten Redewendungen liegt im Negativen. So hat auch der Psychoanalytiker Jung den Schatten als "ungelebte und unterdrückte Seite des Ich–Komplexes" und später einfacher und weniger negativ als das "gesamte Unbewußte" bezeichnet.
   Der Schatten hat zu allen Zeiten und bei allen Völkern als Phänomen und auch als Symbol eine geheimnisvolle Rolle gespielt. Erst die "Neuzeit" versuchte ihn nüchtern – im Lichte des Intellekts, des aufgeklärten Europäers – als bloßes optisches Phänomen zu betrachten und damit zu entschleiern. Kinder haben, ohne daß man ihnen dazu etwas erklärt hat, eine Ahnung von der Bedeutung ihres Schattens, indem sie ihn schützen (z.B. vor dem Betreten durch andere). Hier scheint es also eine archaische Verbindung zu geben. Im Dunklen sieht das übersinnliche Auge, im Hellen das sinnliche oder im Sinne der psychoanalytischen Terminologie: im Schatten die primäre emotionale und im Hellen die sekundäre rationale Wahrnehmung. Die Schatten sind Erscheinungen der übersinnlichen Welt und wirken so auf die Be trachter.
   Der Schatten ist ein Abbild des Körpers, an dem Merkmale seines Trägers wiederzuerkennen sind, er ist ein abstraktes immaterielles Bild. Er hat keine Farbe, er ist flach.
   Mit Hilfe des Schattens wurde es möglich, den Umfang der Erde sowie ihre Entfernung zur Sonne zu messen, den Mond als Kugel und als kraterdurchfurchtes Element zu er kennen.
   Der Schatten ist sowohl eine physikalische Erscheinung als auch ein Abbild der Seele. In dieser Dualität liegt wohl die Fülle der vielen Metaphern und Geschichten über ihn begründet.

Phänomene aus unterschiedlichen Volksgruppen

¥ Wird in Australien ein Schläfer vom Schatten der Schwiegermutter gestreift, kann das eine schwere Krankheit hervorrufen.
¥ In China darf der Schatten nicht in einen offenen Sarg oder in eine Totengrube fallen, deshalb binden Totengräber ihren Schatten mit einer Schnur fest.
¥ Wenn in Indien der Schatten eines Unberührbaren den Körper eines Brahmanen streift, muß der Brahmane sich reinigen.
¥ In Tokio muß der Erbauer eines Hauses allen, die im Schatten seines neuen Gebäudes leben, eine Entschädigung zahlen.
¥ Die Zulu fürchten das Nahen des Todes, wenn der Schatten kürzer wird.
(Tote werfen keinen Schatten, da sie auf dem Boden liegen. Die Lebenden – Stehenden – werfen einen großen Schatten. Diese rationale Betrachtung wird im magischen Denken in Ursache und Wirkung vertauscht, so ist der Schatten nicht klein, weil man liegt, sondern man liegt, weil der Schatten klein ist.)
Das Synonym "Schatten = Seele" zeigt ein Problem auf: Auch Gegenstände werfen Schatten, haben sie damit eine Seele?
   Wie schon erwähnt sind in vielen Ethnien Götter, Unsterbliche, Zauberer, Gespenster, Vampire, Hexen, Teufel und Dämonen schattenlos. Unser Schatten kennzeichnet unsere Zugehörigkeit zur menschlichen Gesellschaft. Sein Verlust bedeutet Ausschluß. Sowohl im Märchen (z.B. O. Wildes "Der Fischer und seine Seele) als auch in zahlreichen Erzählungen findet sich diese Thematik:
¥ Peter Pan (James Barrie) kehrt von seiner wunderbaren Trauminsel "Nimmerland" auf die Erde zurück, damit Wendy ihm seinen Schatten annäht.
¥ Peter Schlemihl (Adalbert v. Chamisso) tauscht seinen Schatten gegen Reichtum, kann dabei jedoch nicht glücklich werden.
¥ "Die Frau ohne Schatten" (H. v. Hoffmannsthal)

In den Bildern wird deutlich, was der Schatten alles kann: Er kann eventuell klarer – auf einer realen Ebene – über das Objekt Auskunft geben als das Objekt selbst.

Kamele im Schatten Kamele im Schatten

Die von außen nicht sichtbaren seelischen Ab sichten werden durch den Schatten deutlich.

Mann mit Beil Mann mit Beil

Schon zur Zeit der französischen Revolution sollte in diesen Karikaturen der Schatten gehobene Persönlichkeiten mit ihren Eigenschaften entlarven. Daß Grandville Probleme bekam, ist leicht verständlich.

Grandville Grandville

Die Werbung benutzt den Schatten, der als Teil der Person deutlich wird, aber auch dämonisch ein Eigenleben führt und seinen Besitzer seines Parfums berauben will. Dieser läßt sich das nicht gefallen und jagt es ihm wieder ab. Hiermit wird verdeutlicht, welche immensen Wert das Parfum hat, daß sogar der eigene Schatten sich gegen seinen Herrn auflehnt und nur mit Gewalt bezwungen werden kann.

Egoiste Egoiste

Er kann aber auch über die wahren Eigenschaften des schatten werfenden Objekts täuschen.

Hasen Hasen

Was ist das Spezifische am Schattenspiel, wie wirkt es und was unterscheidet es von anderen Theaterformen?

Da Schattenspiel in seiner Jahrtausende alten Tradition zu nächst ausschließlich kultische und religiöse Bedeutung hatte, verwendet man in Asien, dem Herkunftskontinent, nicht den Begriff "Theater". Auch heute noch hat der indonesische Schattenspieler, der Dalang, während einer Aufführung priesterliche Funktion. Diese kultische Bedeutung hat es in Europa nie gehabt, es war und ist Theater. Theater aber will etwas bewirken.
   Um das, was in Zuschauern passiert, zu erkennen, ist es notwendig den Prozess des "Sehens" – genauer gesagt der "Wahrnehmung" – zu beschreiben. Erst dann können wir sie gezielt beeinflussen.

Vorgänge bei der Wahrnehmung

Naiv betrachtet sehen wir alle das Gleiche. Dies ist aber nicht so. Um das zu verdeutlichen möchte ich mit einem gestaltpsychologischen Ansatz beginnen und zunächst betrachten, wie "Wahrnehmung" vor sich geht.
   Wahrnehmung ist nicht das, was sich auf der Retina abbildet, denn Bilder werden keineswegs Punkt für Punkt auf die Hirnrinde projiziert. Daß die Bilder auf der Retina nicht einfach 1:1 verarbeitet werden, ist leicht einsichtig: Stellen Sie sich vor, Sie gehen über einen großen gepflasterten Platz. Dort liegen Hunderttausende von Pflastersteinen. Je nachdem welchen Sie anschauen, sehen alle anders aus: Die direkt unter unseren Füßen sind fast quadratisch und relativ groß. Wenn wir nun den Blick langsam nach vorne richten, werden sie immer kleiner und zum Trapez – nach rechts oder links blickend, nehmen wir sie noch weiter verzerrt wahr. Kein einziger gleicht einem anderen und doch nehmen wir wahr, daß alle gleich große Pflastersteine sind. Wenn jetzt einer nur einen Zentimeter höher liegt als die anderen, wird dieser aus allen anderen herausgefiltert, denn das bedeutet "Gefahr zu fallen". Dies alles passiert automatisch, ohne daß wir das bewußt wahrnehmen. Wollten wir diesen Vorgang bewußt kontrollieren, hätten wir Mühe, den Platz an einem Tag zu überqueren. Wir müssen also annehmen, daß das augenblicklich Gesehene (modifizierter physiologischer Retinareiz) und die in Erinnerung gespeicherten Bilder in Form bestimmter Kriterien kodiert werden. Ein Bild entsteht dann durch das Zusammenwirken einer Anzahl von Zellen. Die Vielzahl von Sinneseindrücken muß durch eine Reihe von Gittern auf ein verarbeitbares Maß reduziert werden. Die ersten Aussortierungen erfolgen automatisch und unbewußt. Sensorische Reize werden für die Dauer von wenigen hundert Millisekunden zunächst automatisch gespeichert, um dort gesichtet, bewertet und weiterverarbeitet oder ausgesondert zu werden. Die übrig bleibenden Reize werden nun bewußt in ihrer Bedeutung geordnet. Sie werden in Bildern oder verbalisiert gespeichert. Diese Verarbeitung und Speicherung ist jedoch nur möglich, wenn diese notwendigen Ordnungskategorien bereits vorhanden sind. Das heißt: Sehen und Erkennen des Menschen beruht darauf, daß die hauptsächlichen Merkmale der Gegenstände bereits vorher im Gehirn gespeichert wurden. Alle Impulse, die der Sehrinde von den Augen angeliefert werden, werden mit anderen gespeicherten Impulsen verglichen. Sofern sie keine Bedeutung haben, werden sie aussortiert d.h. vergessen.
   Diesen komplexen Vorgang machen folgende Experimente anschaulich:
1. S.F. Nadel führte Afrikanern Strichzeichnungen von Menschen und Tieren vor. Wenn diese Kultur selbst nicht gegenständlich malte, konnte niemand Inhalt und Sinn der Zeichnung erkennen.
2. Die Zeichnung einer Umrißlinie eines Pferdes können wir als "Pferd" erkennen, obwohl diese keine gemeinsamen Eigenschaften mit einem realen Pferd hat. Ja, wir können sogar sagen: Dieses Pferd ist schlecht gezeichnet oder ähnelt einer Kuh, soll aber ein Pferd sein.
3. Hier fehlt so viel, daß das Gestaltzentrum eine erhebliche Zeit benötigt, um das Fehlende zu ergänzen. Wenn Sie das Prinzip erkannt haben, können sie das "E" erkennen und reproduzieren.

großes E großes E

Wenn das Wahrnehmungsschema erkannt und neuronal gespeichert ist, gelingt die Lösung ähnlicher Aufgaben in immer kürzerer Zeit.
   Daß der Sinneseindruck durch vorhandene Strukturen auch modifiziert werden kann, zeigt uns ein weiteres Beispiel:
   4. Die ursprünglich produzierte Form wurde – je nach dem individuellen Hintergrund der Person – verändert abgespeichert. Jede Person glaubte diese Reproduktion gesehen zu haben:

Kreis Abgewandelter Kreis

– Ein Frauenfan mit der Assoziation "Venus"
– Ein Bodybilder mit der Assoziation "Hantel"
– Eine Musikerin mit der Assoziation "Violine"

Die visuelle Welt ist ein ungelerntes Erleben und bedeutungslos, wenn wir sie zum ersten Mal sehen. Die Bedeutung der Dinge ist das, was wir lernen. Dies zeigt das folgende Beispiel:

Maluma - Takete Maluma - Takete

Wenn man Erwachsene fragt, welche Figur Maluma und welche Tagete heißt, werden (fast) alle hier sehr eindeutig und gleich reagieren. Es ist klar, daß die runde Figur "Maluma" heißen muß und die spitze Figur "Tagete". Obwohl wir davon ausgehen können, daß niemand das direkt gelernt hat oder es verabredet wurde, haben wir doch alle gelernt, daß Namen zu den Eigenschaften des Benannten passen sollen. Das lautmalerische "Maluma" mit seinen weichen Tönen paßt also nur zu den weichen Linien. Wenn wir diese Frage an kleine Kinder stellen, werden wir feststellen, daß sie die Namen ungefähr gleichmäßig auf beide Figuren verteilen. Im Lauf des Älterwerdens verändert sich die Zuordnung in Richtung zur erwachsenen Eindeutigkeit.

Die Aufnahmegeschwindigkeit unserer Wahrnehmung ist begrenzt. Diese Begrenztheit nutzen z.B. Film und Fernsehen. Hierbei werden ja Einzelbilder in schneller Abfolge gezeigt. Unser Gehirn versucht aus dieser Abfolge von Einzel bildern ein Kontinuum zu machen, indem es die fehlenden Teile ersetzt. Passen die Einzelbilder nicht zusammen, kann das Gehirn kein Kontinuum bilden und es entsteht Konfusion. Auf diese Konfusion reagiert der Organismus vegetativ mit Streßreaktionen. Sofern diese Konfusion erwünscht ist, wenn z.B. Chaos, Schlachtgetümmel oder eine wilde Jagd vermittelt werden sollen, kann sie in das Kontinuum eingebaut werden. Bei dieser Konfusion werden die Emotionen nicht "geleitet", sondern "überwältigt". Um Emotionen "wegzudrücken", ist dieses Verfahren geeignet. (Ein Beispiel ist eine Diskothek, die optisch und akustisch mit völliger Reizüberflutung arbeitet.)
   Diese Grundlagen der Wahrnehmung determinieren die Wirkung, die der Sender (in unserem Kontext die Aufführung) beim Empfänger (Zuschauer) hervorruft.

Sehgewohnheiten unterliegen Veränderungen

Das heute übliche Tempo der Schnitte bei Video–Clips (aber auch bei Film und Fernsehen) liegt erheblich über dem vor ca. 20 Jahren. Jüngere Menschen sind das gewohnt, denn die gesamte Umwelt sendet heute mehr und stärkere Reize aus als früher, ältere haben ihre Schwierigkeiten damit. Wichtig ist jedoch zu erkennen, daß die höhere Geschwindigkeit auf Kosten der Informationstiefe geht. Unser neuronales System setzt da Grenzen.

Was passiert beim Schattenspiel ?

Hier arbeiten wir mit einer Projektionsfläche. Auf der einen Seite wird von den Schattenspielern eine Figur projiziert. Auf der anderen Seite projizieren die Zuschauer ihre Phantasie in diese Figur, sie wirkt als Projektionsfläche. Wenn nun diese Figur sich durch eine Geschichte bewegt, ist sie in der Wahrnehmung der Zuschauer nicht nur eine fremde, sondern auch eine eigene Schöpfung.

Die Wirkung unterschiedlicher Schatten

Die unterschiedliche Qualität und seine Bewegungen rufen unterschiedliche Emotionen hervor. Der klar abgegrenzte Schatten, der das schattenwerfende Objekt 1:1 abbildet, löst Emotionen aus, die dem des realen Objekts am ähnlichsten sind. Jede Veränderung seiner Schärfe, Dichte und der Form bewirken eine Verschiebung der Emotion von real zu irreal. Ein diffuser Schatten bindet den Betrachter weniger an die Realität und gibt der Phantasie mehr Raum. Er wird dramaturgisch vor allem da eingesetzt, wo Angst und allgemeine Bedrohung im Zuschauer ausgelöst werden sollen. Der größer werdende Schatten vermittelt ein Anwachsen seiner Be deutung z.B. eine Zunahme von Macht. Das Gegenteil wird mit dem Schrumpfen bewirkt. Da physikalisch (lichttechnisch bedingt) diese Veränderung im Theater durch eine Abstandsänderung von Lichtquelle–Objekt–Schirm als Begleiterscheinung eine Abnahme der Tiefe des Schwarz sowie eine Verminderung der Rand– und Binnenstrukturschärfe bewirkt, können wir diese Faktoren nur gemeinsam beurteilen. Sie wirken jedoch alle in die gleiche Richtung und verstärken sich so.
   Dieser Effekt stößt jedoch im wahrsten Sinne an Grenzen. Wächst z.B. eine Figur in Konfrontation zu einer anderen, tritt der genannte Effekt so lange ein, bis eine überlappung dieser zwei Schatten erfolgt. In diesem Moment bricht die ausgelöste Emotion zusammen und ist nicht ohne weiteres wieder aufbaubar.

(siehe: Bilder links).

Ausgangssituation Ausgangssituation

Wachsen des Schattens Wachsen des Schattens

überlappung der Schatten überlappung der Schatten
Szenen aus: "Vom Fischer und seiner Frau"

Schatten sind zunächst einmal schwarz. Durch gezielte Beleuchtung können wir sie jedoch einfärben. Auf die psychologische Wirkung der einzelnen Farben soll hier nicht eingegangen werden, aber es ist klar, daß Farben sowohl Emotionen als auch Assoziationen (Konnotationen) auslösen. So verbinden wir Begriffe wie Wärme und Kälte mit Farben oder wir assoziieren z.B. mit Purpurrot Herrscherwürde.
   Durch die Einfärbung eines Schattenschirms durch Frontlicht bekommen die Schatten, die auf den Schirm von hinten geworfen werden, die Farbe des Frontlichts. So ist bei gezielter Fokussierung von Frontlichtern eine unterschiedliche Einfärbung gleichzeitig auftretender Schatten möglich.
   Durch den Einsatz mehrerer Lichtquellen lassen sich ein schwarzer Kernschatten und weitere, in ihrer Farbtiefe geringere Schatten rings um den Kernschatten erzeugen. Ein Aus einanderrücken der Lichtquellen, eventuell verbunden mit Kaschs (Abdeckungen der Lichtstrahlung) macht es möglich, den Schatten eines Objekts so zu verändern, daß nur noch Teile des Objekts – dafür aber künstlich zusammengesetzt – als Schatten auf dem Schirm erscheinen. (Siehe Artikel "Lichttechnik") Wenn die Lichtquellen verschiedenfarbig sind, sind auch die Teilschatten verschiedenfarbig. Nur der Kernschatten, sofern er auf den Schirm fällt, ist noch schwarz. Das entstandene Schattenbild gibt das schattengebende Objekt auch in seiner Gestalt verfremdet wieder. Diese Technik bewirkt eine Veränderung der Wahrnehmung des Zuschauers in Richtung "irreal" oder "Traum".
   Eine Schemenfigur ist für die Phantasie – bei sonst gleicher Binnenstruktur – stärker einschränkend als eine Schattenfigur, hat aber durch ihre Farbwirkung andere Möglich keiten der Ästhetik und der Wirkweise. Alle diese Wirkungen sind im Theater dramaturgisch einsetzbar.

Der Einfluß von Form, Binnenstruktur und Animation

Hat ein Schatten eine geometrische Form, so ist der Aufforderungscharakter gering. Ist er bildhaft, ohne zu stark einschränkend zu sein, so ist er anregend für die Phantasie, die sie ausgestaltet (Dies nützt man z.B. beim Rorschachtest aus, wenn man der Testperson einen Tuscheklecks vorlegt und sie fragt, was sie sieht). Ist der Schatten bildhaft mit starker Strukturierung, wird der Phantasie weniger Raum gegeben, so daß diese ihn weniger gern oder gar nicht ausgestaltet.
   Die Schatten–Figur, die vom Schattenspieler hervorgerufen und vom Zuschauer ausgestaltet wird, bewegt sich nun durch die Geschichte. Dieser Effekt ist vergleichbar mit Strukturen aus Märchen und Trivialliteratur: Um die Identifikation des Lesers/Sehers/Hörers zu ermöglichen bzw. zu verbessern, werden dort, wo Identifikation stattfinden soll, Beschreibungshüllen aufgebaut, die eine individuelle Ausgestaltung dieser Matrix für ein möglichst breites Publikum ermöglichen. Auf das Schattentheater bezogen heißt dies: Die Reduktion der Merkmale einer Person auf ihre Silhouette ermöglicht eine maximale individuelle Ausfüllung dieser Silhouette mit der Wirkung, daß ganz unterschiedliche Menschen sich mit ihr identifizieren können.
   Eine weitere Voraussetzung für Identifikation ist, daß die Projektionsfläche, d.h. das angebotene Schattenbild, dem inneren Phantasie–Selbst–Bild des Zuschauers ähneln muß. Hierfür sind störende Strukturen auszuschalten, das bedeutet, daß die Binnenstrukturen auf ein Mindestmaß reduziert werden müssen. Gleiches gilt für die äussere Ausformung.
   Im Folgenden Beispiele, bei denen Identifikation leichter bzw. schwer möglich ist: Dies ist eine Szene aus ExupŽrys "Kleiner Prinz". Der Prinz zeigt eine "neutral–positive" Silhouette (Diese Silhouette wurde von einer Reihe von Testpersonen aus 30 Entwürfen ausgewählt). Sie weist wenig Binnenstruktur auf (nur Auge und Ohr, welche die Fähigkeit von Sehen und Hören damit hervorheben ). Eine Identifikation erwies sich als leicht möglich.

Kleiner Prinz Kleiner Prinz

Anders bei dem Antipoden des Prinzen, dem Geschäftsmann: Er weist eine Silhouette auf, in der ein Menschenoberteil, ein Schreibtisch, eine Rechenmaschine sowie eine Vielzahl von Binnenstrukturen enthalten sind. Die kleinen Pupillen – im Gegensatz zum Prinzen – verstärken das Negativbild und stellen ihn als Mensch–Maschine–Schreibtisch dar, der wenig Sympathie erzeugt. Eine Identifikation ist nur schwer möglich, sie sollte ja da auch nicht erreicht werden. Karikierende Figuren erschweren eine Identifikation.

Figur von E. M. Engert Figur von E. M. Engert

ähnliches gilt für die Animation. Ist sie stimmig (für den dargestellten Charakter), so wird die Phantasie des Zuschauers nicht gestört und er folgt der Lenkung. Ist die Animation nicht stimmig – weil z.B. inadäquat oder holprig – wird die Phantasie gestört, widersetzt sich der Lenkung und bricht aus. Dabei ist es unerheblich, in welche Richtung (positiver oder destruktiver Natur – innere oder äussere Objektrepräsentanzen) diese Figur geht.
   Bei der Animation von Schatten ist weiterhin zu beachten, daß das Tempo der Bewegung einer Schattenfigur um ca. 1/3 gegenüber der realen Bewegung herabgesetzt werden muß, um als gleich schnell empfunden zu werden.

Zum Einfluß der Atmosphäre des Raums, des Lichts und des Schattenspiels selbst.

Durch die Dunkelheit, das Verschwinden der Umgebung und die Reduzierung der Reize steigt die Konzentration auf die erwünschten – inszenierten – Reize. Dieser Vorgang ist der Induktionsphase von autogenem Training, Kathatymem Bilderleben (KB) bzw. der Hypnose vergleichbar. Diese imaginativen Verfahren haben die größte Nähe zur Wirkung des Schattentheaters. Sie basieren auf einem Zustand der vertieften psychophysischen Entspannung, der durch systematische Techniken der Relaxation erreicht werden kann. Hierbei können optische Phänomene imaginativer Art hervorgerufen werden, die sich durch ein regressives Erlebnisniveau aus zeichnen. In der Relaxation wird das die Phantasie auslösende Objekt lebendiger (daher die Reduzierung der Animationsgeschwindigkeit), gewinnt an Farbe und an Dreidimensionalität. Diese Vorgänge spielen sich auf zwei Bewußtseinsebenen gleichzeitig ab: Auf der des Realbewußtseins (linke Gehirnhälfte, Sekundärprozeß, Bewußtes) und auf der des Bildbewußtseins (rechte Gehirnhälfte, Primärprozeß, Unbewußtes).
   Da Sensibilität durch die Reduzierung der Reizschwelle erhöht wird, werden die dargebotenen Reize focussiert und nehmen einen Raum ein, der größer erlebt wird, als er real ist. Der Zuschauer versenkt sich so in eine Ebene, die sich vom Rationalen zum Emotionalen bewegt. Das Schattentheater ermöglicht damit eine Tiefenwirkung, die anderen Formen des Theaters nicht in gleichem Masse möglich ist.
   Alexander v. Bernus hat dies schon Anfang des letzten Jahrhunderts folgendermaßen ausgedrückt: "Allein das Eigentliche und tief Ergreifende des Schattenspiels liegt ganz im Seelischen. Es spiegelt am reinsten die entmaterialisierte Welt der wachen Träume, die feinste Linie zwischen Sein und Schein."
   Wenn dieses Versenken nicht gestört wird, so verändert sich der Wahrnehmungszustand des Zuschauers von rational oder sekundärprozeßhaft – d.h. vom Verstand gesteuert und kontrolliert – zu emotional oder primärprozeßhaft (unbewußt, vom Verstand nicht kontrolliert, sofort in die Seele eingehend.) Dieser Vorgang wird in der Tiefenpsychologie als "Regression" beschrieben. Kinder fangen in ihrer Entwicklung mit dieser Ebene an und erarbeiten sich erst nach und nach die rationale (Kontroll)–Ebene. Da das emotionale Erleben entwicklungspsychologisch vor der Verstandskontrolle kommt, wird es als "primär" und die nachfolgende Phase als "sekundär" bezeichnet.
   Diese Regression wird von manchen erwachsenen Zuschauern als besonders tiefgehendes Erlebnis und damit positiv, von anderen aber als von ihnen unkontrolliert und damit beängstigend erlebt (Kontrollverlust).
   In diesem Sinn kann man Schattenspiel als "kollektiven gelenkten Tagtraum" bezeichnen: "Kollektiv", da es öffentlich und für viele Individuen gleichzeitig dargeboten wird, "gelenkt", da die Phantasie durch die Handlungen der Schatten an die Hand genommen wird, "Tagtraum", da sich die Zuschauer im Feld zwischen Bewußtem und Unbewußtem, zwischen Realem und Irrealem befinden.

Was bewirkt ein Ebenenwechsel (Subjektsprung)?

Die oben beschriebene Versenkung tritt für den Zuschauer nicht allein beim Schattenspiel auf, sie ist allgemein bei Theateraufführungen oder auch im Kino erlebbar. Im Schatten– spiel ist sie jedoch besonders intensiv. "Störungen", ob initiiert oder ungewollt, haben deshalb eine stärkere Wirkung. Jeder Wechsel der Darstellungsebene beinhaltet einen Bruch der zuvor aufgebauten Ebene und wirkt als Störung. Da – wie gezeigt – beim Schattenspiel mehrere Abstraktionsebenen vorhanden sind, können durch einen Bruch eventuell mehrere Ebenen auf einmal betroffen sein. Die besondere Verletzlichkeit der Primärebene und ihre relative Langsam keit – im Verhältnis zur Sekundärebene – bedingen einen vorsichtigen Wechsel der Ebenen so, daß der Zuschauer folgen kann und will.

Tingeltangel Tingeltangel

Eine negativ erlebte Durchbrechung hat in der Regel zur Folge, daß der Zuschauer oder – genauer beschrieben – "Mi terleber" sich nicht mehr oder zumindest nicht mehr so tief einläßt. Es kommt in seiner Wirkung einem abrupten Aufschrecken aus einer Tiefenebene des Bewußtseins gleich – falls vorher eine solche erzielt worden ist – und verhindert ein "Sich–wieder–Einlassen". Dieses abrupte Aufschrecken würde im therapeutischen Bereich als Kunstfehler gelten. Die Tiefe des Einlassens der Zuschauer wird beispielsweise dadurch deutlich, daß bei solchen Aufführungen am Schluß minutenlange Stille herrscht. Tiefe ist allerdings nicht allein durch die Form "Schattenspiel" erreichbar, sondern durch Inhalte, die dann durch die Form "Schattenspiel" vertieft wahr genommen werden können.
   Eine "offene Spielweise" mit gleichzeitiger Präsentation von "Primärebene" (hier: Spiel als solches) und "Sekundäre bene" (hier: Technik des Spiels wird sichtbar) hat den Nachteil, daß die "Sekundärebene" die "Primärebene" gar nicht aufkommen läßt bzw. wenn sie da war, angreift.
   Dies wird sofort klar, wenn Sie sich eine Situation vorstellen, in der Sie einen schwierigen, unbekannten Text vorlesen sollen. Durch die Konzentration auf den Lesevorgang gehen dem Leser inhaltliche Elemente verloren, die beim Zuhören nicht verloren gehen.
   Wenn beide Ebenen präsentiert werden sollen, ohne daß eine zerstört wird, so bietet sich eine zeitliche Versetzung (erst "Primär–", dann "Sekundärebene") an.

Alters– und geschlechtsspezifische Unterschiede beim Erleben

Entwicklungspsychologisch beginnt das Erleben des Kleinkindes auf der Primärebene. Im Verlauf des Älterwerdens und der Sozialisation kommt die Sekundärebene dazu und drängt die Primärebene immer weiter zurück.
   Da – wie schon gezeigt – Wahrnehmung ein Prozeß von Zusammenwirkung von augenblicklich Gesehenem (das können die Kinder fast sofort) und in Erinnerung gespeicherten Bildern ist, bewegen sich Kinder in einem kontinuierlichen Fortschritt des Wahrnehmen–Lernens. Die visuelle Welt ist ein ungelerntes Erleben und bedeutungslos, wenn wir sie zum ersten Mal sehen.
   Wenn Schattentheater optisch eindimensional präsentiert wird, eine klare Gestaltung und Linienführung sowie die Minimierung der äusseren Reize aufweist und damit auch die Konzentration erleichtert, ist das Schattenspiel für Kinder schon früher geeignet als andere Theaterformen.
   Frauen haben auch als Erwachsene weniger Probleme als Männer, die Primärebene zuzulassen, da sie ihnen in ihrer Sozialisation nicht untersagt wurde. Sie sind daher im Umgang mit ihr vertrauter.
   Ein Einwirken der Primärebene wird häufig als Kontrollverlust erlebt, zerstört das Gleichgewicht und löst Abwehr oder Flucht aus. Kinder müssen nicht regredieren, sie befinden sich noch in der primären Phase und reagieren selbstverständlich.
   Beispiele aus Schattenspielsituationen sollen das exemplarisch zeigen: In einer Spielszene wirft ein Mann Messer auf eine Wand, vor der eine Frau steht. Das Gelingen dieser Illusion beruht auf verschiedenen Vorgängen, die als gut getimter Trick und begleitender Akustik erfolgen: Das Messer wird in den Unterarm des Werfers eingeklappt, ein anderes an der Wand ausgeklappt. Sekundärorientierte Erwachsene reagieren auf diese Szene, die sich auf der realen Ebene befindet, indem sie gezielt nach ihr fragen und wissen wollen, wie das gemacht wurde. Nach einer Erklärung oder Vorführung reagieren sie in der Regel "rational", angetan von der Technik. Eher primärorientierte Erwachsene interessiert diese Szene insgesamt weniger als andere Szenen, die weniger technisch und mehr mit Gefühl verbunden sind.
   Als Beispiel für eine ausschließend primärorientierte Wahrnehmungsweise soll die Reaktion eines ca. 6–jährigen Jungen dienen, der Erklärungen über den Ablauf und den Trick mit den verschiedenen klappbaren Messern zurückwies und behauptete : "Ich habe sie fliegen gesehen." Er traute also seiner Wahrnehmung mehr als den rational nachvollziehbaren Erklärungen.
   Nach Aufführungen, deren Schwerpunkt auf der Primärebene liegt, zeigen sich stark Sekundärorientierte häufig ver– wirrt, da sie versuchen ihre Berührung zu verbergen und sie mit dem, was sich in ihnen abgespielt hat, nicht umzugehen wissen (Kontrollverlust). Durch die Betrachtung der aufwendigen Technik können sie ihr "Beeindrucktsein" rationalisieren. Sie führen diese auf die Technik zurück. So reduzieren sie ihre kognitive Dissonanz und finden ihre Sicherheit wieder. Diese Umdeutung ihrer Berührtheit – wissenschaftlich spricht man von "ex post facto", also im Nachhinein gemacht – hält natürlich keiner überprüfung stand, denn die Berührtheit lag ja zeitlich vor dem Kennenlernen der Technik.
   Primärorientierte Erwachsene haben weniger Probleme, die Primärebene zuzulassen. Sie sind vertrauter mit dem Umgang von Emotionen. Diese lösen daher weniger Angst aus und müssen weniger rationalisiert werde. Diese Gruppe kann z.B. die Technik anschauen und auch bewundern, ohne ihr die Verantwortung für ihre Berührung zuschieben zu müssen.

Zusammenfassend kann man sagen:

Schattenspiel ermöglicht ein Erleben auf verschiedenen Ebenen. Besondere Stärken weist es jedoch gegenüber anderen dramatischen Formen auf, wenn es um die Primärebene geht. Es spricht in stärkerem Masse Primärorientierte an, was den großen Anteil von Frauen erklärt. Die dramaturgische Form des Subjektsprungs muß beim Schattenspiel besonders kritisch überprüft werden. Schattenspiel regt in besonderem Masse die Phantasie an, sofern dafür Raum gelassen wird. Schattenspiel kann durch Reizreduktion ein Antipode zu unserer immer reizüberfüllteren Umwelt sein. Bei keiner anderen Theaterform ist die Chance so groß, daß der Zuschauer seine Phantasie in die Figuren projiziert. Dies ist eine Riesenchance, den Zuschauer im Innersten zu bewegen.
   Dadurch, daß wir nicht wissen, welche Phantasien der Zuschauer hat, können wir als Spieler nicht so mit den Schattenfiguren umgehen, als ob es nur unsere eigenen wären, es sind auch die Geschöpfe unserer Zuschauer.

Frieder Paasche

Literatur:
Appeldorn, Werner von, "Die optische Revolution", Hamburg 1970
Bohnert, Gunther, "Projektionen als Theatermittel", Diplomarbeit, Stuttgart 1994
Burham, Jack, "Kunst und Strukturalismus", Schauberg 1973
Casati, Roberto, "Die Entdeckung des Schattens", Berlin 2001
Ebel, Elke, "Puppen, Figuren und Schatten als Darstellung der Seele", Diplomarbeit, Bremen 1995
Gibson, James J., "Die Wahr– nehmung der visuellen Welt", Weinheim 1973
Gonseth/Mistele, "Figuren un– serer Innenwelt", Liestal 1981
Gruyter, Walter de, "Handwör– terbuch des deutschen Aberglau– bens"
Jung, C.G., "Bewußtes und Unbewußtes", Olten 1971
Kohut, H., "Narzismus", Frankfurt/M 1990
Leuner, H., "Katathymes Bilder–leben in der therapeutischen Pra–xis", Stuttgart 1993
Paasche, Frieder, "Die Wirkung des Schattenspiels", Schattentheater Heft 3, 1995
Paasche, Frieder, "Die Wirkung der Puppe", Teatr Lalek Heft 3/78/2004
Petzold, Hilarion, "Puppen und Puppenspiel in der Psychothera– pie", München 1983
Purschke, H.R., "Puppenspiel in der Therapie", Frankfurt/M 1970