Kommunikationsraum Theater

Da sitzt man in Italien abends in einem Restaurant, genießt den herrlichen Wein und beschließt diesen nicht nur im Urlaub, sondern auch zu Hause zu trinken. Glücklicherweise ist er auch in Flaschen verkäuflich und kann mitgenommen werden.
   Wie groß ist jedoch die Enttäuschung, wenn dieser vorzügliche Wein zu Hause keine Begeisterungsstürme mehr hervorruft. Ist er schlecht geworden? Hat man uns betrogen und einen anderen Wein verkauft? Vermutlich nicht. Das, was anders ist, ist der Zusammenhang, in dem wir den Wein trinken, die Atmosphäre, die umgebenden Menschen, die eigene Stimmung, die Gerüche, die Töne, die Temperatur und noch viele weitere Faktoren.
   Systemisch ähnlich wirken Faktoren, in die alle Bereiche unseres Lebens und auch Theaterereignisse eingebettet sind und die unser Erleben beeinflussen.
   Da eine Wirkungsforschung im Gesamtraum "Theater" nur rudimentär vorhanden ist, soll hier versucht werden, Ergebnisse von Einflussgrößen aus anderen Bereichen aufzuzeigen, die ansatzweise auch auf das Theater übertragen werden könnten.
   In gestaltpsychologischem Sinne wird jeder Faktor eines Ganzen durch sein ihn umgebendes Feld beeinflusst. Man kann ihn also nicht aus dem Zusammenhang reißen, um ihn zu beurteilen. Dieser Zusammenhang besteht einerseits aus personalen Komponenten (Zitat G.H. Mead :"Das Verhalten eines Individuums kann nur in Verbindung mit dem Verhalten der ganzen gesellschaftlichen Gruppe verstanden werden, deren Mitglied er ist."), andererseits aus situativen Komponenten: In welcher Umgebung findet etwas statt? (Ein Beispiel aus dem täglichen Leben: Ob eine Badehose oder dunkler Anzug die richtige Bekleidung ist, hängt von den Umständen ab, am Badestrand ist der dunkle Anzug - fast - ebenso fehl am Platz wie die Badehose im Theater).
   Alle unsere Wahrnehmungen - auch unbewusste - finden in einem Feld statt. Seine Struktur besteht aus einer Anordnung von Determinanten sowie deren Dynamik. Neben objektiven Kriterien wird diese Wahrnehmung durch Konventionen und Erwartungen beeinflusst. Wenn man etwas Großartiges erwartet und etwas Mittelmäßiges bekommt, tritt Enttäuschung ein. Wenn die Erwartungen gering sind und übertroffen werden, stellt sich Freude ein. So bestimmt die Erwartung in großem Maße unser emotionales Erleben. Freudvolle Emotionen determinieren wiederum die persönliche und soziale Situation in hohem Maße.
   Überraschungen sind eigentlich das Versagen einer Vorwegnahme (Konvention). In erträglichem Maße allerdings machen sie die Würze aus: sie wirken der Langeweile entgegen.
   Die Konventionen sind also bewusste oder unbewusste Vereinbarungen innerhalb einer Gesellschaft. Um Wirksamkeit zu steigern, gibt es zwei Methoden, mit Konventionen umzugehen:

  • Sie benutzen und sie verstärken.
  • Sie durchbrechen (Überraschung).

Beide Methoden lassen sich nicht gleichzeitig anwenden, da ihre Wirkung sich aufheben würde. Eine phasenverschobene Anwendung ist jedoch möglich und erfolgreich.
   Beide Wege kennzeichnet z.B. die Mode in hervorragendem Maße. Sie durchbricht eine bestehende Konvention (die "Mode von gestern") und schafft eine neue, die zunächst gestärkt wird. Zum Zeitpunkt, an dem sie sich durchgesetzt hat, durchbricht sie diese neu entstandene Konvention wieder. Dieser Vorgang kann sich unendlich wiederholen.
   Solche Strömungen (Mode) sind bei Kleidung extrem schnelllebig, bei Bauten und beim Zeitgeist logischerweise erheblich langsamer.
   Kommunikationspsychologisch betrachtet ist Theater die Präsentation einer Illusion. Gutes Theater präsentiert diese Illusion glaubhaft, also so, dass man das "Spielen" nicht als solches wahrnimmt, sondern das Gespielte als authentisch erlebt. Der Kontext, in dem dieses Spiel stattfindet, kann nun diese Illusion fördern oder unterbrechen. Die beiden wichtigsten Komponenten dieses Prozesses sind - neben den Spielern und dem Publikum - die Kulissen und der Theaterraum.
   Die Kulissen sollen dem Zuschauer helfen, in den Ort der Handlung hineinzublicken. Sie wirken durch die "Ins-Licht-Setzung" während der ganzen Spielhandlung. Die Raumwirkung lässt durch die Verdunklung langsam nach. Das Gefühl, das der Raum jedoch zuvor aufgebaut hat, ist träge und bleibt daher - zwar abnehmend - aber dennoch vorhanden.
   Um Illusionen aufzubauen, ist die Darstellung der Konvention einer Illusion hilfreich (Also das, was der von uns erwartete Zuschauer sich vermutlich vorstellt). Soll die Illusion aus dramaturgischen Gründen durchbrochen werden, so ist eine Zerstörung der Konvention einer Illusion wirksam.
   Bezüglich der Kulissen ist jede Diskrepanz von Spielhandlung und Kulissendarstellung illusionsbrechend. Bezüglich des Raums wirkt jede Rückrufung des Raums in das Bewusstsein des Zuschauers durch Helligkeit im Zuschauerraum illusionsbrechend. Eine Pause wirkt da besonders verstärkend. Jede Illusion muss danach neu aufgebaut werden.
   Bert Brecht hatte mit seinem Theater politische Ambitionen. Er wollte das Illusionstheater (und damit das Gefühl) durchbrechen, um den Verstand einzuschalten und das Publikum zu politischem Handeln zu bringen.
   Dieser Effekt, bei Brecht "Verfremdungseffekt" genannt, hat in der Nachfolge "Mode" gemacht und eine neue Konvention geschaffen, die solche Brüche (z.B. "Subjektsprung") grundsätzlich (und nicht nur als dramaturgisches Mittel) fordert.
   Nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen Zerstörungen auf allen Ebenen war der Wiederaufbau von praktischen Erwägungen bestimmt. So sollte ein Neubau möglichst vielen Funktionen dienen und die "Mehrzweckhalle" für Theater, Sportereignisse, politische Versammlungen, Verkaufsschauen etc. war ein Synonym für diese Richtung. Dieser Raum sollte durch seine "Neutralität" jegliche Assoziation einer einzelnen seiner vielen Funktionen verhindern und damit uneingeschränkt für alle Anlässe brauchbar sein. So wie bei der Mehrzweckhalle war alles, was präsentiert wurde (Inhalt), von Bedeutung, die Verpackung (Form) weniger.
   Der oben angesprochene Zeitgeist der Funktionalität wurde zunehmend gesättigt, so dass neue Strömungen entstanden. Am deutlichsten zeigt sich das an der Entwicklung des Fernsehens. Zu Beginn wurde mit einfachsten Mitteln (eine Kamera, bescheidene Kulissen) ein vermittelnswerter Inhalt präsentiert, während heute teilweise mit aufwendigsten Mitteln (viele Kameras, Lichteffekte, extravagante Studios) ein Inhalt präsentiert wird, dessen Vermittlungswert oft zumindest zweifelhaft ist. Das Primat des Inhalts vor der Form besteht nicht mehr.
   Des weiteren zeigt uns die Nachfrage des Publikums nach Konzerten oder Sportereignissen in Großstadien, dass nicht die optische und akustische Qualität tragend ist, denn die kann man besser und billiger im Fernsehen erleben, sondern das emotionale Erleben des Gruppen- bzw. Massenphänomens. Hier hat die Beziehungsebene das Primat vor der Inhaltsebene. In einer solchen Situation herrscht Kreiskausalität, in der das Verhalten jedes Individuums das der anderen bedingt.
   Bezogen auf das Theater, zeigt sich das Streben nach stärkerer Einbettung des Stückes in den Theaterraum, was auch den Neubau eines Theaters für ein spezielles Stück nicht ausschloss (z.B. Bochum Starlight-Express).
   Ebenso wurden und werden Theaterinhalte in inhaltsäquivalente Umgebungen hineininszeniert, so dass Großinszenierungen nicht nur in Hauptstädten und Ballungszentren angeboten und besucht werden können. Beispiele von den Störtebecker-Festspielen auf Rügen, den Bayern-Ludwig-Inszenierungen nahe Neuschwanstein bis zu Aufführungen vor ägyptischen Pyramiden - kongenial zum Inhalt - zeigen, dass sich diese Strömungen durchsetzen konnten.
   Nicht nur physikalisch erzeugt eine Strömung auch Gegenströmungen. Das zeigen Mini-Theater-Aufführungen wie beispielsweise die des Torturmtheaters in Sommerhausen (Malepiero / Veit Relin) oder Aufführungen in Hotelzimmern oder in Profanräumen, die verfremdend zum Theaterereignis stehen (nightwash), bis zu Aufführungen in bewusst "nicht gefühlsteuernden" Räumen (Wobei meist vergessen wird, dass auch eine "nicht steuernde Umgebung" steuert, denn man kann nicht "nicht fühlen" genauso wie man nicht "nicht kommunizieren" kann -Kommunikationsaxiom).
   Neben den "modeabhängigen" Faktoren gibt es noch ein paar - relativ - immanente ästhetische Wirkgrößen wie den Eindruck der Wohlgefälligkeit bei Gegenständen, Größen- und Raumverhältnissen sowie Figuren- und Farbzusammenstellungen. Sie beeinflussen unser Wohlbefinden oder Unbehagen und können damit zielgerichtet eingesetzt werden. (Vergleiche z.B. "Goldener Schnitt" oder "Farbpsychologie")
   Einen ganzheitlicheren Ansatz zeigen - nach der Pionierarbeit von Roncalli - heute viele Einrichtungen unserer Gesellschaft. So haben zum Beispiel die traditionellen Stadtführungen theatrale Inszenierungen übernommen. Die Gastronomie bezieht Theater und Artistik in die Menuefolge ein, um "Erlebnisgastronomie" zu präsentieren. In diese Richtung gingen auch eine Reihe von Theatern, die mit kulinarischen Einlagen - möglichst zum Stück passend - den Theaterraum sinnlich und damit auch atmosphärisch bereichern (z.B. "Panem et circenses" oder "Augenschmaus").
   Ein positives Beispiel für eine umfassende "Sinnesbereicherung" ist für mich das "Theater der Nacht" in Northeim. Dieses Theater ist kein Neubau, sondern ein Umbau einer ehemaligen Feuerwache mit einem Trockenturm.
   Die "Gestalt" dieses Theaters zeigt folgende Merkmale:

  • Das ursprünglich eckige Dach wurde durch Rundungen entschärft und die Funktionalität des ehemaligen Feuerwehrturms durch einen "Drachenkopfaufsatz" verändert.
  • Die Inneneinrichtung mit unkonventionellen Einzelstücken, die im Gegensatz zu den üblichen uniformen Möbeln stehen, ermöglichen und fordern eine Exploration der Blicke und der Gedanken.
  • Die nach außen hin einsehbare Werkstatt erlaubt Zuschauen und vermittelt damit Offenheit.
  • Die Nase an der Außenwand macht die Abkehr von der Funktionalität zugunsten von sinnlicher Wahrnehmung deutlich.
  • Durch die Einbeziehung von Natur-Materialien, deren Farbe und Textur, Licht und Dekoration die Architektur unterstützt, wird ein Gefühl von Homogenität vermittelt.
  • Dabei wird diese Homogenität durch unterschiedliche Formen und Materialien so weit kreativ unterbrochen, dass keine Langeweile entsteht, ohne dass die Homogenität zerstört wird.
  • Die Deckengestaltung des Theatersaals mit vielen kleinen Lichtquellen lässt die Assoziation "Firmament" aufkommen.

Die Gesamtanlage lädt zur Assoziation "traum- und märchenhaft" ein, was sie für eine Reihe von Veranstaltungen besonders attraktiv macht, andere jedoch ausschließt.
   Der Kommunikationsraum Theater wirkt und beeinflusst Theatererleben. Systemisch kann ein einzelner Faktor unterschiedliche Wirkungen erzielen, eine einzelne Wirkung kann jedoch durch unterschiedliche Faktoren bedingt sein. Hinzu kommt, dass jede Wirkung auch immer - eventuell auch unerwünschte - Nebenwirkungen hat.
   Durch diese Komplexität bedingt, ist es nur möglich, Einflussgrößen und Analogien aufzuzeigen, wie etwas wirken könnte, da jede Behauptung, dass es sicher sei, dass es so wirke, gewagt ist.

Frieder Paasche
Kommunikationswissenschaftler und Dipl. paed. , Lehramt für Geschichte und Deutsch, Ausbildung beim Film, Regisseur von Filmen und Theaterstücken, Leiter der Vagantei Erhardt, Juror bei Filmfestivals, Psychotherapeut und Supervisor.
(Veröffentlicht in: Das Andere Theater 2005)