Dramaturgische Entscheidungen und ihre Wirkung auf das Publikum

Seit einigen Jahren hat sich die Darstellungsform des Figurentheaters stark verändert. Traditionell agierte der Puppenspieler im Verborgenen und präsentierte sich dem Publikum nicht persönlich. Hierfür gab es eine Reihe von gesellschaftlichen und künstlerischen Gründen, die auch heute noch existent sind: Gesellschaftlich, weil in der Vergangenheit das Individuum nicht so hervortreten sollte (wie es heute noch im Osten auch im Figurenspiel deutlich wird), künstlerisch, weil sich dem Inhalt alles unterordnen musste. So lag die soziale und künstlerische Anerkennung des Puppenspielers unter der des Schauspielers, der ja vom Publikum wahrgenommen wurde. Durch die verborgene Spielweise konnte das Publikum keine Beziehung zum Spieler aufbauen, der Applaus und die Anerkennung galt den Puppen und damit erst indirekt dem Spieler. Neville Tranter hat diesen Effekt in seinem Stück „Manipulator" dramatisiert und sich darin über die ihm entgegengebrachte Missachtung beklagt.
   Die Kunst hat es immer als ihre Aufgabe gesehen, einerseits Strukturen zu spiegeln und andererseits erstarrte Strukturen zu durchbrechen und neue Akzente zu setzen. Der Verdienst der offenen Spielweise und des Objekttheaters war es, die verhärtete Struktur der verdeckten Form aufzubrechen. Zusätzlich wurde ein Ebenenwechsel erleichtert, der dramaturgisch neue Möglichkeiten bot. Eine ökonomisch notwendige Verkleinerung des Ensembles wurde weiterhin erleichtert.
   Aus der Erweiterung der dramaturgischen Möglichkeiten scheint mir jedoch eine neue Doktrin geworden zu sein. Die klassische Definition von Kunst geht von einem Primat der Aussage (Inhalt) vor der Form aus. Das heißt, die Form ist der abhängige Faktor. Der Künstler möchte eine Aussage machen und sucht eine ihm vertraute, dem Inhalt und dem – bisher noch imaginären - Publikum adäquate Form aus.
   Als künstlich gilt, wenn die Form das Primat vor der Aussage hat. Leider macht uns das Fernsehen zur Zeit vor, wie in immer perfekterer Form (Studioausstattung, Bildqualität, Anzahl der Kameras etc.) immer dürftigere Inhalte präsentiert werden. Eine Beurteilung über den Wert einer Kunstform kann nur nach Betrachtung von Inhalt und Form abgegeben werden. Insofern ist eine Bewertung, ob offene oder verdeckte Spielweise besser sei, unsinnig. Beurteilt werden kann nur, ob für den jeweiligen Inhalt, das anzusprechende Publikum, unter Berücksichtigung der Fähigkeiten der Spieler und den Möglichkeiten der Bühne die eine oder andere Spielweise besser geeignet ist.
   Der im (Menschen)-Theater – vor allem bei B. Brecht – eingesetzte Ebenenwechsel ist dramaturgisch im Figurentheater weniger notwendig, da ja Person und Rolle nicht wie beim Schauspiel in einer Person vereinigt sind. Sie sind in (unbelebter) Figur = Objekt und (belebter) Spieler = Subjekt deutlich erkennbar zwei Ebenen zuzuordnen.
   Das Figurentheater bewegt sich in einem Raum von einerseits künstlerisch- ästhetischer Aussage, andererseits therapeutisch-pädagogischem Auftrag. Objekt-Subjekt-Unterscheidungen eignen wir uns entwicklungspsychologisch erst im Lauf unserer Entwicklung durch die Ausprägung der Ratio an, für Kleinkinder sind auch Objekte belebt (Animismus). In wieweit sich das Figurentheater in diese Entwicklung einschalten soll, wird weltanschaulich unterschiedlich beantwortet.
   Die folgenden Überlegungen sollen jedoch eine Reflexion über Wirkungen von Theatralischen Formen sein, die dann bewusst eingesetzt werden können.

Wirkungen

Sind Figuren und Animation nicht stimmig – weil inadäquat, holprig oder störend -, wird die Phantasie gestört, widersetzt sich der Lenkung und bricht aus. Dabei ist es unerheblich, in welche Richtung (positiver oder destruktiver Natur der inneren oder äußeren Objektrepräsentanzen) diese Figur geht. Soll der Zuschauer sich mit der Figur identifizieren, sind weitere Voraussetzungen notwendig:
   Die Projektionsfläche, d.h. die angebotene Figur muss dem inneren Phantasie- Selbst-Bild des Zuschauers ähneln. Störende Strukturen müssen ausgeschaltet werden, das bedeutet, dass die Binnenstrukturen auf ein Mindestmaß reduziert werden müssen. Gleiches gilt für die äußere Ausformung. Karikierende Figuren erschweren eine Identifikation. Durch die Dunkelheit, das Verschwinden der Umgebung und die Reduzierung der Reize steigt die Konzentration auf die erwünschten – inszenierten – Reize. Dieser Vorgang ist der Induktionsphase von autogenem Training, kathatymem Bilderleben bzw. der Hypnose vergleichbar.
   Die Sensibilität wird durch die Schwellenreduzierung erhöht, die dargebotenen Reize werden focussiert und nehmen einen Raum ein, der größer erlebt wird, als er real ist. Der Zuschauer versenkt sich damit in eine Ebene, die sich vom Rationalen zum Emotionalen bewegt. Wenn dieses Versenken nicht gestört wird, so verändert sich der Wahrnehmungszustand des Zuschauers von rational (sekundär prozesshaft, d.h. vom Verstand gesteuert und kontrolliert) zu emotional (primär prozesshaft, unbewusst, vom Verstand nicht kontrolliert, sofort in die Seele eingehend). Dieser Vorgang wird in der Tiefenpsychologie als „Regression" beschrieben.
   Kinder fangen in ihrer Entwicklung mit dieser Ebene an und erarbeiten sich erst nach und nach die rationale (Kontroll)-Ebene. Da das emotionale Erleben entwicklungspsychologisch vor der Verstandeskontrolle kommt, wird es als „primär" und die nachfolgende Phase als„sekundär" bezeichnet.
   Eine Regression wird von manchen erwachsenen Zuschauern als besonders tiefgehendes Erlebnis und damit positiv, von anderen aber als von ihnen unkontrolliert und damit beängstigend erlebt. (Kontrollverlust)

Was bewirkt ein Ebenenwechsel (Subjektsprung)?

Bert Brecht wollte die Zuschauer in seinen Stücken aus der kontemplativen Ebene herausreißen, um sie auf die rationale zu bringen, und auf diese Weise politisches Bewusstsein und möglichst nachfolgendes Handeln erzwingen. „Glotzt nicht so romantisch!!"(Zitat B. Brecht) Dieser Vorgang wurde Verfremdungseffekt genannt.
   Das Durchbrechen einer Handlungsebene erleben wir immer öfter.– teils von der Geschichte des Stücks bedingt, teils vom Autor oder Spieler gewollt oder von der Werbung uns aufgezwungen. Was es in uns bewirkt, kann jeder nachvollziehen.
   Sofern ein Stück in seinem dramaturgischen Aufbau, der kunstvoll in seiner Entwicklung auf einen Höhepunkt zustrebt, durch ein retardierendes Moment zurückgeführt , danach aber doch zu seiner Lösung kommt, unterbrochen wird, wird der Spannungsbogen zerstört. Nachfolgend müsste er wieder neu aufgebaut werden. Sofern diese Zäsur im Stück nicht eingebunden ist, leiden Qualität und Zuschauer. Ist sie intendiert, muss ein neuer Spannungsbogen aufgebaut werden. Eine negativ erlebte Durchbrechung hat in der Regel zur Folge, dass der Zuschauer/Miterleber sich nicht mehr oder zumindestens nicht mehr so tief einlässt. (Auch das kann natürlich dramaturgisch gewollt sein!).
   Die gleichzeitige Präsentation von „Primär-Ebene" (hier: Spiel als solches) und „Sekundär-Ebene" (hier: Technik des Spiels wird sichtbar) hat den Nachteil, dass die „Sekundär-Ebene" die „Primär-Ebene" gar nicht aufkommen lässt bzw. wenn sie da war, wieder zerstört.
   Wenn beide Ebenen ohne wechselseitige Störung präsentiert werden sollen, müssen sie zeitlich versetzt werden. Als Reihenfolge bietet sich erst „Primär-", dann „Sekundär-Ebene" an.
   Soll als dramaturgisches Mittel die „Primär-Ebene" verhindert werden – beispielsweise zur Darstellung von Chaos oder Verwirrung –, so kann dies durch unterschiedliche Brüche der Ebenen (Subjektsprünge) evoziert werden. Dieser Vorgang ist mit dem – eigentlich verbotenen - Achsensprung bei der Bildgestaltung in Film und Fernsehen vergleichbar. Er wird z.B. in Krimis eingesetzt, um ungezieltes, heilloses Hin- und Herrennen zu visualisieren.

Alters- und geschlechtsspezifische Unterschiede beim Erleben

Klassifizierungen auf Grund des Alters und der Entwicklungsstufe sind schwierig, aber immer noch leichter zu vollziehen als geschlechtsspezifische, da diese besonders der Gefahr unterliegen, als plattes Stereotyp gegeißelt zu werden. Aus diesem Grund werde ich die Unterscheidung „stärker primärorientiert" wählen – was unter den Erwachsenen statistisch in größerem Maße die Frauen betrifft - und „stärker sekundärorientiert", was eher den Männern zugeordnet wird.
   Diese Verteilung hat neben endogenen Faktoren sehr viel mit der sozialen Prägung zu tun. Frauen haben weniger Probleme, die „Primär-Ebene" zuzulassen, da sie ihnen in ihrer Sozialisation nicht untersagt wurde. Sie sind daher im Umgang mit ihr vertrauter. Männer – vielfach erzogen unter Maximen wie „Ein Indianer kennt keinen Schmerz !" oder „Jungen weinen nicht !" - werden dann weiter durch die berufliche Sozialisation, die auch heute noch fordert, Konflikte auf der Sach- und weniger auf der emotionalen Ebene zu lösen (auch wenn sie dort kaum lösbar sind!), in Richtung „Sekundär-Ebene" programmiert. So ist ihre Kompetenz im Umgehen mit der „Primär-Ebene" oft geringer. Ein Einwirken der „Primär-Ebene" wird deshalb häufig als Kontrollverlust erlebt, zerstört das Gleichgewicht und löst Abwehr oder Flucht aus.
   Da Wahrnehmung ein Prozess des Zusammenwirkens von augenblicklich Gesehenem (neuronaler Vorgang ohne Bedeutungszuornung - das können Babys fast sofort) und in Erinnerung gespeicherten Bildern (da ist am Lebensanfang fast gar nichts vorhanden) ist, bewegen sich Kinder in einem kontinuierlichen Fortschritt des Wahrnehmenlernens.
   Die visuelle Welt ist also ein ungelerntes Erleben und bedeutungslos, wenn wir sie zum ersten Mal sehen. Die Bedeutung der Dinge ist das, was wir lernen. Kinder müssen für ein Erleben der „Primär-Ebene" nicht extra regredieren, sie befinden sich noch in dieser Phase und reagieren selbstverständlich. Durch vorsichtige Animation, eine klare Gestaltung und Linienführung sowie die Minimierung der äußeren Reize, um die Konzentration zu erleichtern sind weniger komplexe Figuren oder Schattenspiel für Kinder schon früher geeignet als andere Theaterformen.

Frieder Paasche
(Veröffentlicht in: Das Andere Theater 56/2004)