Wayang Kulit auf Bali

Für uns Europäer hat das schattenwerfende Subjekt oder Objekt mehr Bedeutung als der Schatten selbst. Für Balinesen wie auch für Bewohner Javas oder Lomboks ist das umgekehrt. Der Schatten ist wichtiger und sogar realer. Die Schattenwelt ist die eigentliche Welt. Vergleichbar ist das nur mit der Ideenlehre Platons: Die Wahrnehmung erkennt nichts Dauerndes, nur die Idee ist unwandelbar.

Trimurti "Trimurti"

In Bali ist der Figurenspieler eigentlich Schamane, der den göttlichen Schöpfungsakt als theatralisches Ritual inszeniert. Das kann auch ohne Publikum stattfinden. Der Spieler (Dalang) hat während seiner Aufführung priesterliche Funktion. Das Spiel ("Wayang Kulit") mit all seinen Elementen stellt die Welt dar. Die Figuren sind die Menschheit, der Bananenstamm, in den die Figuren gesteckt werden, die Erde, der Schirm der Himmel, die Lampe die Sonne und der Dalang die Verkörperung des göttlichen Prinzips. Der Anlass für eine Aufführung ist auch heute noch in der Regel ein kultischer (Tempelfest, Einäscherungsfeier, Zahnfeilung, Geburtstagsfeier, Hochzeit und rituelle Reinigung). Der religiös- kultische Charakter wird darüber hinaus durch die Gebets- und Beschwörungsformeln des Dalangs sowie eine Opferung zu Beginn und am Ende unterstrichen.
   Fast in allen Völkerkundemuseen sind javanische Schattenfiguren zu sehen, selten jedoch balinesische. Das liegt daran, dass der kultische Charakter des Schattenspiels auf Bali auch heute noch sehr ernst genommen wird. So wäre es ein Sakrileg, wenn ein balinesischer Dalang seine heiligen Figuren verkaufte. (Figuren werden dann als "heilig" bezeichnet, wenn sie nicht für den Tourismus oder den Verkauf hergestellt, sondern für kultische Zwecke eingesetzt wurden.) Selbst zerspielte Figuren werden unten in der Spielkiste oder am Haustempel aufbewahrt, bis sie verbrannt oder dem Meer übergeben werden.
   Das Spiel selbst schafft eine Beziehung von den jetzt Lebenden (und das Spiel Betrachtenden) zu den Ahnen, die im Spiel "leben". Durch ihr Auftreten, ihre Manifestation im Drama, zwingt man sie für die Dauer der Aufführung zur Anwesenheit.
  

Kumba Karna "Kumba Karna" (Java)

Diese Ahnen sind nicht persönliche (also z.B. Großeltern), sondern kollektive aus dem mythischen Reich Madjapahit. In diesem historisch realen und zugleich mythischen Reich wurden die aus Indien stammenden Epen Mahabharata und Ramayana mit ihren handelnden Figuren (den indischen Göttern, Helden, Menschen, Dämonen und Tieren) als eigene angenommen, verehrt und in die eigene Landschaft versetzt. Jetzt sah man sich selbst als Nachkommen des Heldengeschlechts der Pandawa und stellte einen Stammbaum her, der die Abstammung der eigenen Fürsten in direkter Linie aufzeigte.
  

Spassmacher "Spaßmacher" "Lembongan"

Hinzugefügt wurden mit den "Penasar" (Spaßmachern) vorhinduistische Charaktere, die in den indischen Urfassungen unbekannt sind und in denen ehemalige indonesische Heroen stecken, die ihre göttlichen Eigenschaften nicht verloren haben.
   Die Ursprünge des balinesischen Schattenspiels kommen also aus Indien. Von Indien wurden nicht nur die Inhalte übernommen, sondern auch die Machart der Figuren. Da die balinesischen Figuren nicht durchscheinend sind wie die farbigen aus den indischen Zentren von Andhra Pradesh oder Karnataka, stammen die Einflüsse eher aus Maharastra oder Kerala, deren Figuren undurchsichtig und bemalt sind.
   Der im 14. Jahrhundert aufkommende Islam vertrieb die Hindus von Java nach Bali. Die Inhalte der Epen waren in der damaligen javanischen Sprache, "Kawi-Kuno", festgehalten. Dieser - für die Zuschauer unverständlichen - Sprache bedienen sich im traditionellen Schattentheater bis heute alle handelnden Figuren außer den "Penasar", die die jeweilige Sprache der Zuschauer sprechen, die Handlung kommentieren und durch Witze und Improvisation das Publikum bei Laune halten.
   Die Figuren des Schattenspiels symbolisieren positive und negative Kräfte. Inhaltlich geht es immer um den Kampf dieser Gegensätze. Rechts vom Dalang sind die positiven Kräfte, links die negativen angeordnet. Figuren, die im Spiel nicht benötigt werden, umrahmen je nach ihrer Zugehörigkeit links oder rechts die offene Spielmitte.
   Zu der unheilbringenden Seite gehören neben dem Riesen Dasamuka, dem Gegenspieler von Rama, dämonische Riesen (Raksasas), Dämonen (Butas), unheilvolle Götter wie z.B. Kala (verschlingendes Prinzip, auch Zeit) und Durga sowie deren Gefolge. Zu dieser Seite gehören auch die Penasar "Delem" (eingebildet und dumm) und Sangut (listig).
   Auf der heilbringenden Seite stehen neben Rama (dem Namensgeber des Epos "Ramayana" als Inkarnation des Gottes "Wishnu") seine Frau "Sita" und seine Familie, die halbgöttlichen Affen mit "Hanoman" und "Bima" als potentestem Helden der "Pandawas" sowie Edle und Heilige. Die halbgöttlichen Penasar "Twalem" und "Merdah" unterstützen diese Seite in ihrem Kampf.
   Der Kampf beherrscht alle Aufführungen. Das "Gute" siegt, aber das duale Prinzip muss immer erhalten bleiben, das heißt, der Sieg darf nie vollkommen sein. (Siehe hierzu die rechts stehende Beschreibung der Aufführung des Ida Bagus Geria)
   Das Spiel eröffnet der Kayonan, der Lebensbaum. Huscht er über die Leinwand, versinnbildlicht das einen Ortswechsel oder das Vorwärtsschreiten der Zeit, aber auch "Berg", "Baum" und "Gefährt" sowie "Pause".
   Die Spielweise ist tänzerisch bewegt, wobei die Schatten nur teilweise scharf sichtbar sind. Häufig berühren nur Teile - meist der Kopf einer Figur - die Leinwand. Auch heute wird meist noch mit einer Kokosöllampe gespielt, die der Dalang in besonders dramatischen Momenten in Schwingung versetzt, sodass sich die Schatten nicht nur durch die lodernde Flamme besonders stark bewegen.
   Begleitet wird der Dalang von (meist zwei bis vier) Musikern, die das Spiel mit Gendern (Metallophonen) begleiten und untermalen. Der Dalang dirigiert die Musiker mit dem Cempala, einem Holzklopfer, den er zwischen den Zehen des rechten Fußes hält und mit dem er gegen die links von ihm liegende Figurenkiste (Koprak) schlägt.
   Balinesische Figuren kennzeichnet, dass Kopf und Füße im Profil, der Korpus im Halbprofil (wie auf ägyptischen Reliefs), allerdings nicht so "manieriert" (also überlang und verschlankt) und überästhetisiert wie die javanischen dargestellt werden.
   Der zentrale Führungsstab ist gerade und aus Holz. Die Figuren selbst werden aus Rinder- oder Wasserbüffelhaut gefertigt, die nicht gegerbt (das würde Leder ergeben), sondern abgeschabt, mit Asche und Wasser behandelt und getrocknet zu Pergament wird.
   Daraus wird die Form der Figur geschnitten und die Binnenstruktur mit unterschiedlich geformten Meißeln ausgestanzt. Anschließend wird sie mit Ruß geschwärzt und dann farbig bemalt. Hauptfarben sind Schwarz, Weiß, Rot, Blau Gelb, Grün und Gold. Im letzten Arbeitsgang werden die Augen fertiggestellt. Symbolisch lebt die Figur jetzt.
   Götter sind die einzigen, die als Figur "en face" dargestellt werden dürfen. Außerdem sind sie unbeweglich. Heilige auf der einen Seite und hochrangige Dämonen auf der anderen Seite haben nur einen beweglichen Arm, die Helden und Hauptakteure weisen zwei Arme auf. Allein die unförmig gestalteten Penasar haben zusätzlich einen animierbaren Unterkiefer.
   Die tiefe Verankerung des Schattenspiels und seiner Figuren als religiös-kultisch auch im Bewusstsein heutiger Balinesen zu veranschaulichen, seien abschließend zwei Begebenheiten aus meinem eigenen Erleben angefügt:
   Als der Dalang Ida Bagus Geria aus Mas in einer Aufführung in Goslar den "Tod von Rahwana" als Ausschnitt des "Ramayana" zeigen und damit enden sollte, dass Rahwana, der sich in die Lüfte begeben hat, von Ramas Wunderpfeil tödlich getroffen und so zerstört wird, dass Köpfe und Gliedmaße (als Brahmamurti hat er viele Arme und Köpfe) einem Regen gleich zur Erde fallen, führte er - ohne Absprache mit den Gamelan-Spielern und dem Veranstalter - die Handlung weiter, da er mit dem Ende, nämlich einer vollständigen Vernichtung der dämonischen Seite, eine Rache der Dämonen für seine Person fürchtete.
   Erst als sich die dämonische Seite im Handlungsverlauf wieder einigermaßen erholt hatte, beendete er das Spiel. Schon vor der Aufführung hatte ihn ein Hautausschlag, den er mit dem geplanten Aufführungsende in Zusammenhang brachte, unter Druck gesetzt.

Dämon "Subali", Affenfürst

Als ich 1988 eine ausgedehnte Studienreise durch Indonesien unternahm, erzählte mir ein befreundeter Dalang, dass eine Familie am Fuß des heiligen Bergs Gunung Agung ihren Figurensatz an ein großes Völkerkundemuseum verkauft hatte. Nachdem diese Familie seit drei Generationen keinen Dalang-Nachfolger mehr hervorgebracht und das Museum für balinesische Verhältnisse unermesslich viel Geld geboten hatte, wagten sie, das Sakrileg zu brechen. Als jedoch das Familienoberhaupt daraufhin erkrankte, führten sie das auf das Sakrileg zurück und machten den Kauf rückgängig.
   Als ich meinem befreundeten Dalang gegenüber äußerte, dass es für mich die Erfüllung eines Traumes bedeutete, einen solchen Figurensatz zu besitzen, hielt er das für mich als "europäischem Dalang" vielleicht für möglich. So besuchten wir gemeinsam diese Familie, tranken Tee und betrachteten stundenlang den Figurensatz (Ringgit). Dies wiederholte sich innerhalb von fünf Wochen mehrmals, bis mir "mein" Dalang mitteilte, die Familie von Ida Wayan Jelantik wolle mich adoptieren, dann sei ja wieder ein Dalang in ihrer Familie, dem sie den Ringgit übergeben könnte. Mir wurde jedoch auch mitgeteilt, dass ich als Familienmitglied die Pflicht hätte, für diese zu sorgen. Ein Koffer voll Geld sei angemessen. Damit war die Übergabe des Koprak mit 150 Figuren (geschnitten ca. 1880) sowie aller dazugehörigen Gegenstände möglich geworden. Ein Sakrileg war vermieden und eine "Bestrafung" durch Dämonen trat nicht ein. Eine Besonderheit eines Teils dieser Figuren ist, dass der zentrale Führungsstab zum Schutz vor dem Saft des frischen Bananenstamms, in den die Figur beim Spiel gesteckt wird, im Lauf ihres Schattenspiellebens - unseren Wertvorstellungen zum Graus - eine uralte Plastikkugelschreiberhülle am unteren Ende übergestülpt bekam.
  

BaliBühne Balinesische Schattenspielbühne

Diese Schattenfiguren bilden einen Teil meiner Schattenfiguren- Sammlung und wurden in verschiedenen Ausstellungen u.a. in Paris und Berlin ausgestellt - auch dagegen scheinen die Dämonen bisher nichts einzuwenden zu haben.

BaliBühne Balinesische Schattenspielbühne

Frieder Paasche

Literatur:
Hilpert, Clara B., "Schattentheater", Hamburg 1982
Schörner, Klaus, "Mystik und Symbolik spezieller Gestaltungsformen des Wayang", Frankfurt 2001
Spitzing, Günter, "Das indonesische Schattenspiel", Köln 1981
Werle-Burger/Eversberg, "Ombres Chinoises", Husum 1992